Die Chancengerechtigkeit in der Schule und ihre Feinde

erschienen der „Presse“

 

Der Dreißigjährige Krieg um die Begriffe Leistung und Gerechtigkeit überlagert die Schuldiskussion in Österreich und erstickt jeden ernsthaften Reformversuch im Keim.  Wie in allen Religionskriegen sind objektive Fakten irrelevant und die Standpunkte der Lager unverrückbar. Das Schulwesen der 2. Republik ist unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation fest in roten und schwarzen Händen, daher spielen die Positionen der anderen Parteien nur eine untergeordnete Rolle.

Fangen wir mit der Partei an, deren Abgeordneter ich viele Jahre war, und deren einfaches Mitglied ich nach wie vor bin – der ÖVP.

  1. Die ÖVP ist aus tief verwurzelten ideologischen Gründen gegen die Gesamtschule.
  2. Der ÖVP sind im Zweifelsfall die Interessen der begabten Kinder wichtiger als das Gesamtniveau aller Kinder eines Jahrgangs.
  3. Der ÖVP verteidigt die Zukunftschancen der Kinder aus dem Bildungsbürgertum, verkennt aber, dass wir uns die systembedingte Diskriminierung von begabten Kindern aus Arbeiter- und Migrantenfamilien nicht länger werden leisten können, weil diese einen immer größeren Anteil der Schulpflichtigen ausmachen.
  4. Die große Sorge um die Wahlfreiheit der Eltern ist die getarnte Furcht um die Standesinteressen der bestens in der ÖVP verankerten AHS-Lehrergewerkschaft.
  5. Die ÖVP verteidigt nach wie vor die heile Welt, dass unsere Hauptschulen dem handwerklich talentierten Kind eine wunderbare Karriere als Facharbeiter oder gar Unternehmer eröffnet.  Ihre führenden Funktionäre denken nicht im Traum daran, ihre eigenen Kinder auf diesen Karriereweg zu schicken.

Nun zur SPÖ:

  1. Die SPÖ ist aus tief verwurzelten ideologischen Gründen für die Gesamtschule.
  2. Der SPÖ ist im Zweifelsfall die Chancengleichheit der Kinder aus Arbeiterfamilien wichtiger als das Recht jedes begabten Kindes auf maximale individuelle Begabungsförderung.
  3. Die SPÖ erkennt nicht, dass soziale Benachteiligungen am besten vor dem Schuleintritt oder spätestens in der Volksschule ausgeglichen werden müssen und nicht erst zwischen 10 und 14 Jahren.
  4. Die SPÖ hat noch immer eine innere Distanz zur Selbstverantwortung und  zum Leistungsprinzip. Sie vertraut eher dem Einfluss des Staates, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen.
  5. Die SPÖ stellt die Gesamtschule als ein Paradies dar, in dem die individuellen Begabungen maximal gefördert werden. Ihre führenden Funktionäre denken nicht im Traum daran, ihre eigenen Kinder an eine Gesamtschule zu geben – nicht einmal öffentliche Gymnasien sind gut genug für ihre Kinder.

Abweichende Meinungen innerhalb der SPÖ und  der ÖVP  vom jeweiligen Dogma werden als Ketzerei geahndet. Die Tatsache, dass es Schulsysteme wie in Skandinavien oder Kanada gibt, in denen Leistungsorientierung und Gerechtigkeit keine Widersprüche sind, wird hartnäckig ignoriert. Die verheerenden Folgen dieser ideologischen Selbstfesselung sind, dass unser Schulsystem heute leistungsfeindlich   u n d  sozial diskriminierend ist.

Die Fakten

  • OECD Studien kritisieren immer wieder völlig berechtigt die im Vergleich zu anderen Staaten soziale Diskriminierung von Kindern von Migranten und bildungsfernen Schichten. Die Chance auf höhere Bildung wird in Österreich vererbt: Schüler A ist außergewöhnlich begabt, seine Eltern sind Arbeiter und er wohnt in einem abgelegenen Dorf. Die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass er in Österreich eine Matura machen wird, liegt bei 10 Prozent. Schüler B ist das Kind von Akademikern und lebt in einem bürgerlichen Bezirk in Wien. Sein Talent ist wohlwollend formuliert – überschaubar. Die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass er in Österreich eine Matura machen wird, liegt bei 80 Prozent.
  • Wir sind ein Land der Analphabeten: Bei PISA 2003 betrug der Anteil der Risikogruppe, jener Kinder, die nicht sinnerfassend lesen konnten, 20 Prozent. Bei PISA 2006 verschlechterte er sich trotz aller angekündigten Maßnahmen leicht auf 21 Prozent. Bei PISA 2009 stürzten Österreichs Schüler beim Lesen innerhalb der EU auf den zweitschlechtesten Rang ab. Nur Rumänien lag hinter uns. Die berechtigten methodischen Zweifel an der PISA-Studie ändern nichts daran, dass auch andere internationale und österreichische Studien immer zum gleichen Ergebnis führen: Jeder fünfte 15-Jährige in Österreich kann nicht sinnerfassend lesen, jeder zehnte ist de facto ein Analphabet. Zusammen mit den Niederlanden hat Österreich den größten Anteil männlicher Leseverweigerer, nämlich 61 Prozent, die in der Freizeit niemals zum Vergnügen lesen.
  • Land der Hilfsarbeiter: Acht von zehn Bewerbern um eine Lehrstelle scheitern ungeachtet eines positiven Hauptschulabschlusses bei den Aufnahmetests, die mittlerweile alle großen Unternehmen durchführen. Dabei werden die Grundrechnungsarten, Prozentrechnungen und einfachste Deutschkenntnisse überprüft. Selbst von jenen, die eine Lehrstelle bekommen, schafft dann jeder Fünfte die Lehrabschlussprüfung nicht. Dazu kommen noch jene, die erst gar nicht zur Prüfung antreten.
  • Generation No Future: Nur fünf Prozent der Schüler aus Migrantenfamilien oder aus bildungsfernen Schichten schaffen es trotz der schlechten Voraussetzungen, gute Leistungen in der Schule zu erbringen.

Fazit: Wer über mehr Bildung verfügt, wird seltener gekündigt, verdient mehr und zahlt daher höhere Steuern, ist in geringer Gefahr, kriminell zu werden, wird seltener krank und lebt deutlich länger. Diesen Bildungsreichtum vererbt er mit hoher Wahrscheinlichkeit an seine Kinder. So einfach ist das. Trotzdem leugnet die Politik in Österreich diese eindeutigen Zusammenhänge und versucht den Absturz unseres Bildungssystems schönzureden. Die Sozial- und Gesundheitskosten werden explodieren, weil man jeden fünften jungen Menschen in den neun Jahren Schule völlig vernachlässigt, um ihn danach 60 Jahre erhalten zu müssen. Das ist ziemlich dumm.

Warum alle Ideologen echte Chancengerechtigkeit fürchten 

Chancengleichheit in einer Gesellschaft halte ich für eine Illusion, weil Kinder aus funktionierenden, gebildeten Familien immer einen Startvorteil haben werden. Das erreichbare Ziel, das sich ein Schulsystem setzen kann, lautet Chancengerechtigkeit.

Dafür würde es reichen ein Prinzip in unserer Verfassung zu verankern und es damit von jedem Bürger einklagbar zu machen: Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass seine Talente in der Schule maximal gefördert werden.

Dem werden wahrscheinlich die meisten Menschen zustimmen. Konsequent durchgedacht würde sich aber schnell zeigen, dass dieser Anspruch  mit beiden zuvor geschilderten ideologischen Positionen unvereinbar ist.

1. Je gezielter die individuellen Talente von Kindern gefördert werden, umso größer werden die Unterschiede. Echte Chancengerechtigkeit würde Kinder nicht wie bisher an ein schulisches Mittelmaß anpassen sondern zu weniger Nivellierung der Leistungen führen. Das wird alle jene, die sich von Schule aus ideologischen Gründen mehr Gleichheit wünschen, wenig freuen.

2. Chancengerechtigkeit hieße aber auch alle Schüler systematisch in ihren Talenten unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer Herkunft  zu erfassen. Das wäre gerecht aber ein völliger Bruch mit der bisherigen Tradition. Derzeit werden Kinder mit zehn Jahren in solche getrennt, die es „im Kopferl“ haben, und solche, die es „im Ärmel“ haben. Interessanterweise haben es 80 Prozent der Schüler in Wien-Hietzing „im Kopferl“ und 90 Prozent der Schüler in den ländlichen Gebieten von Tirol „im Ärmel“. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schicken Eltern im bürgerlichen Hietzing ihre Kinder in eine nicht leistungsdifferenzierte Gesamtschule. Ein Drittel der Schüler langweilt sich, weil sie unterfordert sind, und ein Drittel kämpft ständig mit dem Überleben, weil sie überfordert sind. Umgekehrt hat ein Kind in Tirol, wenn es in einem Gegenstand in der dritten Klasse (!) Volksschule  ein „Befriedigend“ hat, keine Chance, später an eine AHS zu kommen. Das führt dazu, dass Eltern der betroffenen Kinder dem Systemwahnsinn gehorchend fordern, dass ihre Kinder die dritte Klasse wiederholen dürfen, obwohl sie eindeutig positiv abgeschlossen haben.

In Singapur müssen alle Kinder nach sechs Jahren Grundschule einen national einheitlichen Test absolvieren, dessen Ergebnis nicht nur über die zukünftige Schulkarriere, sondern meist auch die berufliche Zukunft entscheidet. Dieser PSLE (Primary School Learning Examination) geht über drei Tage und testet hauptsächlich die mathematischen–logischen Fähigkeiten. Würden die Talente von Kindern in Österreich so erfasst werden, wäre es in vielen konservativen Elternhäusern mit der Begeisterung für ein selektives  leistungsorientiertes Schulsystem schnell vorbei.

Österreichs Wohlstand hängt von unserem öffentlichen Schulsystem ab – mit oder ohne Euro

Derzeit laufen zwei wichtige Diskussionen parallel nebeneinander, als ob sie nichts miteinander zu tun hätten: die Finanzkrise und die Bildungskrise. Diese sind aber durch das einfache Gesetz von Ursache und Wirkung untrennbar miteinander verbunden. Unser Bildungsniveau ist maßgebend für die Wettbewerbsfähigkeit und diese bestimmt langfristig unseren Wohlstand, unabhängig davon, ob es den Euro nächstes Jahr noch gibt. Wenn wir heute eine Schule oder eine Universität im Stich lassen, ist das für unsere Zukunft weit schlimmer, als eine Bank aufzugeben. Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass über das wichtigste Kapital Österreichs kein Schutzschirm gespannt wird.

Es ist daher die heilige Pflicht von uns allen, den Druck auf die politischen Parteien zu erhöhen, damit unsere Schulen nicht weiter ein Exerzierfeld für ideologische Verkrampfungen der Parteien, engstirnige Lehrergewerkschaftsinteressen, übersteigerten Föderalismus und existenzbedrohende Einsparungsfantasien bleiben. Alle aufgezeigten Gruppen verfügen über starke Lobbys. Dabei sollte unser Schulsystem ausschließlich dem Gemeinwohl dienen, um sicherzustellen, dass Eltern ihre Kinder guten Gewissens in jede öffentliche Schule schicken können. Das Gemeinwohl hat in Österreich aber keine Lobby. Daher schaut unser Schulsystem so aus, wie es ist. Wir alle sind dafür verantwortlich.

Das Wissen, wie eine Schule aussehen müsste, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Schüler orientiert, ist bekannt. Die guten Schulen basieren auf bestimmten Prinzipien:

  • Die Schüler werden systematisch in ihren Stärken und Schwächen erfasst und entwickeln sich ständig weiter. Die Definition von Talent umfasst gleichberechtigt kognitive, sportliche, künstlerische, emotionale und soziale Begabungen.
  • Es besteht ein klarer Verhaltenskodex für Schüler und Lehrer, der auch konsequent umgesetzt wird. Für schwierige Fälle gibt es dafür ausgebildete Spezialisten.
  • Die Zeitstruktur und die Räume der Schule orientieren sich an den Bedürfnissen der Schüler. Pausenglocken und starre Stundenpläne wurden abgeschafft.
  • Lehrer bereiten nicht allein „ihre“ Stunden vor, sondern erarbeiten in Teams die Lernerfahrungen für ihre Schüler. Die Lehrer verbringen den ganzen Tag in der Schule und teilen sich ihre Zeit autonom ein. Sie haben moderne Arbeitsplätze und Räume für ihre Teambesprechungen.
  • Ein exzellenter Direktor, der Menschen führen und begeistern kann. Dieser Direktor hat einen wesentlichen Einfluss auf die Auswahl seiner Lehrer und kann sich von den völlig ungeeigneten auch trennen.
  • Der Unterricht geht über die klassischen Fächer wie Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften hinaus und umfasst Lernen in Projekten, Kunst, Sport und soziale Erfahrungen.
  • Die Eltern werden von Anfang an in das Netzwerk der Schule eingebunden, sei das bei manchen auch noch so schwierig.
  • Und das Wichtigste: Alle, der Direktor, die Schüler, die Lehrer und die Eltern, verstehen sich als Lernende. Lernende, die Fehler machen dürfen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen; Lernende, die Widerstände in sich selbst und bei anderen zu überwinden lernen; Lernende, die nicht die Fehlschläge und gescheiterten Versuche, sondern die Erfolge und Fortschritte zählen.

Wenn wir so genau wissen, wie gute Schulen funktionieren, warum schaffen wir diese dann nicht für alle Kinder?

Die Antwort, auf die ich nach unzähligen Diskussionen mit den Verantwortlichen gekommen bin, ist banal und tragisch: Sie wollen das Offensichtliche nicht sehen, weil sie Angst vor dem Widerstand gegen das Neue haben.  Sie klammern sich wider besseres Wissen am Alten fest. Sie orientieren sich nicht an den Reformern, sondern an den Bremsern. In der Wirtschaft gibt es den Spruch „Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen“. In der Schule herrschen die Langsamen über die Schnellen. Und da sich die Langsamen in der Schule überhaupt nicht bewegen, wird der Stillstand zur dominierenden Bewegungsart.

Wenn nicht eine grundlegende Reform gelingt, dann wird sich der Abstieg unseres öffentlichen Schulsystems fortsetzen. Jeder, der es sich irgendwie leisten kann, wird sein Kind in eine Privatschule geben. Im öffentlichen Schulsystem werden die Kinder der bildungsfernen Schichten übrig bleiben. Ich bin sehr für Privatschulen, weil sie den Eltern mehr Wahlmöglichkeiten bieten und den Veränderungsdruck erhöhen. Aber die Zukunft für ein kleines Land wie Österreich mit seinen 1,2 Millionen Schülern kann nur in einem öffentlichen Schulsystem liegen, das die Talente seiner Kinder fördert und nicht systematisch zerstört, nur weil jedes Vierte davon in die „falsche“ Familie am „falschen“ Ort geboren wurde.  Wohin ein Raub der Bildungschancen und eine Erziehung zur Mutlosigkeit führen, zeigen die Beispiele von Griechenland und Spanien. Unvorstellbare 50 Prozent der jungen Menschen sind dort arbeitslos.

Das erste Land der Welt, das es schafft, die sozialen und kreativen Kompetenzen seiner Schüler genauso gut zu erfassen und zu fördern wie die kognitiven Fähigkeiten, wird das beste Schulsystem der Zukunft kreieren. Österreich hätte theoretisch die besten Voraussetzungen für einen derartigen Entwicklungssprung. Das öffentliche Bewusstsein ist mehr als bereit für eine große Bildungsreform, und wir sind nach wie vor eines der reichsten Länder der Welt. Wenn wir keinen nationalen Konsens schaffen, werden wir uns alle in zehn Jahren fragen lassen müssen, warum wir nichts gegen den dramatischen Einbruch unseres Bildungssystems getan haben, obwohl die Fakten völlig eindeutig waren. Und wir werden dann sicher nicht mehr zu den reichsten Ländern der Welt gehören.